Fachbeitrag Scheidung

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Thomasmesse: Sonntag, 28. September 2008

„Patchworkfamilie – Zwischen Chance und Schwerarbeit“

Guten Abend. Ich bin heute eingeladen worden, meine beruflichen Erfahrungen als Ehe- Familien- u. Lebensberaterin zum Thema, „ Patchworkfamilien – zwischen Chance u. Schwerarbeit“ einzubringen.

Wenn KlientINNen zu mir in Beratung kommen, dann habe ich folgenden Zugang, von dem ich mich in der Arbeit leiten lasse. „Nicht zu richten, sondern aufzurichten.“
Mit anderen Worten, geht es in meiner Arbeit mit Betroffenen darum, wie können diese trotz schwieriger Lebensumstände ihr Leben so gestalten, dass sie an den Problemen nicht zerbrechen, sondern daran wachsen.

Patchworkfamilien gibt es schon sehr lange. Vor den medizinischen Errungenschaften – wie z.B. der Entdeckung des Antibiotikums- war das Risiko früh zu sterben viel höher als heute. Alleinerzieherfamilien waren keine Seltenheit. Aus wirtschaftlicher Notwendigkeit wurden Patchworkfamilien gegründet. Heute entstehen Ein-Eltern-Familien eher durch Trennung, Scheidung als durch Tod und Patchworkfamilien eher aus Liebe statt Notwendigkeit. (siehe dazu CD-ROM Patchworkfamilie, erhältlich beim BMGFJ – Bundesministerium für Gesundheit, Familie und Jugend)


So wie die Gesellschaft sich wandelt, entwickelt und wandelt sich auch die Familie. Mittlerweile wird jede 2. Ehe in Österreich geschieden. Daher gibt es immer mehr Allein-    erziehende (mehr Mütter als Väter) und Besuchselternteile (mehr Väter als Mütter) und Patchworkfamilien. Ca. 9% der Kinder in Österreich leben in Patchworkfamilien. Tendenz steigend.


1.)    Unter Patchworkfamilien versteht man heute eine Familie, die entsteht, wenn mindestens 1 Partner  sein Kind oder seine Kinder in die neue Beziehung bringt.

2.)    Patchwork kommt aus dem Englischen und bedeutet: zusammengenähte Stoffstücke,
die ein gemeinsames Muster ergeben. Eine Übersetzerin hat diesen Begriff 1990
erstmals für zusammengesetzte Familien verwendet und weil es das bunte
Nebeneinander und Miteinander in Stieffamilien so treffend bezeichnet, hat es sich
durchgesetzt.

3.)    Patchworkfamilien sind Familien mit allen Problemen, die klassische erste Familien auch haben. Sie sind zugleich Familien, die anders sind.

In meinen Ausführungen gehe ich auf Patchworkfamilien ein, die als Folge von Trennung/Scheidung entstanden sind, weil da viel mehr Verflechtungen bestehen, als wenn ein Elternteil gestorben ist.

Was genau ist anders bei Patchworkfamilien? Welche typischen Schwierigkeiten haben Mitglieder einer Patchworkfamilie und welche Chance haben sie im Miteinander? Darauf möchte ich jetzt eingehen.

1.)    Wenn sich zwei kinderlose Singles ineinander verlieben, dann ist es anders, als wenn ein Kind bereits da ist.

Freizeit und Aufmerksamkeit gilt es auch mit dem Kind zu teilen. Die Vorhaben der Erwachsenen müssen sich an die Vorhaben des Kindes  und an das Kindeswohl orientieren. Man hat weniger Zeit als Paar, weniger Aufmerksamkeit und weniger Handlungsspielraum in der Partnerschaft. Das sind erschwerte Voraussetzung für eine Paarbeziehung.

Welche Chancen ergeben sich trotzdem daraus?: Solche Paare legen ihre rosarote Brille schon früher ab. Denn die Liebesbeziehung von Paaren mit Kindern macht schon früher den Test auf Alltagstauglichkeit. (siehe dazu CD-ROM  Patchworkfamilie, BMGFJ)

2.)    Eine „normale Familie“ wächst langsam zusammen, eine Patchworkfamilie hat eine viel kürzere Entstehungsgeschichte. Z.B. Ein Junggeselle wird auf einmal „Vater“ von Schulkindern; oder die zweifache Mutter bekommt zusätzlich Kinder dazu; die neue Partnerin kann sich am Wochenende als Stiefmutter versuchen; ein Einzelkind hat plötzlich Geschwister,  usw. Das alles birgt natürlich Zündstoff.

Um ein weiteres Scheitern in so einer Familie zu verhindern ist die Frage wichtig:  Können wir uns Zeit lassen?

•    Zeit, um zu trauern, weil die 1. Familie sich aufgelöst hat und eine oder mehrere Personen nicht mehr im gleichen Familienverband leben.

•    Zeit, sich mit möglicherweise gemischten Gefühlen auseinanderzusetzen. Eine Seite in mir befürwortet das Leben in der neuen Familie, die andere hat massive Vorbehalte, hat Ängste, Widerstände sich auf neue Personen einzulassen.

•    Zeit, um sich in die neue Rolle einzuleben und einander besser kennenzulernen.

•    Zeit, um Bindungen wachsen zu lassen.

Geduld und Langsamkeit sind ganz wichtige Tugenden, die hier gefragt sind, damit ein Zusammenleben in einer Patchworkfamilie gelingen kann.


3.)    Im Gegensatz zur „einfachen“ Familie, (kein Familienleben ist einfach) ist das Leben in einer Patchworkfamilie viel komplexer. Und weil das Leben einer Patchworkfamilie nicht einfach ist, wird diese Tatsache von manchen Betroffenen als defizitär/nicht normal, nicht in Ordnung erlebt. Manche versuchen die Komplexität zu bekämpfen, den außerhalb der Familie lebenden Elternteil bzw. Expartner zu negieren, ein Leben zu führen als sei alles ganz einfach, als ob es keine Vergangenheit gäbe und das rächt sich dann meistens.

Damit ein Zusammenleben in einer Patchworkfamilie eine Chance bekommt ist es wichtig sich die Frage zu gestatten:

Darf die verwirrende Vielfalt in unserer Familie einen Platz bekommen?
Können wir akzeptieren, dass sich unsere Familie von den „einfachen“ Familien unterscheidet, und dass dieser Unterschied ganz normal ist? (vgl. dazu Koschorke, Kleine Texte, aus dem evangelischen Zentralinstitut für Familienberatung Nr. 16, 1989)


4.)    In einer „einfachen“ Familie ist die Zugehörigkeit der Familienmitglieder ganz klar und eindeutig. Mutter-Vater-Kind(er) – wir sind eine Familie und gehören zusammen.

In einer Patchworkfamilie gibt es eine Mischung aus Dazugehören und Nicht-Dazugehören und teilweise dazugehören. Wer gehört zu wem dazu? Wer gehört nicht dazu. Wer nur teilweise dazu?

Das heißt Patchworkfamilien kann man auch als Familien der offenen Tür nennen. Sie sind mit anderen Familiensystemen verflochten. Ihre Grenzen sind offener.

Die Schwierigkeit für die Betroffenen ist der Umgang mit den Grenzen, der Umgang mit den Loyalitäten, Umgang mit den unterschiedlichen Bindungen.

Je klarer die Familienangehörigen sagen dürfen und gegenseitig anerkennen dürfen, zu welchen Familien sie außerdem noch gehören, je offener man sagen kann, dass man einigen in der jetzigen Familie näher steht und anderen ferner, desto mehr Zugehörigkeit und Loyalität wird mit der Zeit innerhalb der neuen Familie wachsen.
(vgl. Koschorke, 1989)


5.)    Alle Mitglieder in Patchworkfamilien haben mehr oder weniger einen Aufholbedarf an Zuwendung und Aufmerksamkeit. Gerade Kinder, die von Trennung/Scheidung betroffen sind, haben mehrere Verlusterlebnisse erlitten. Insofern ist ihr Bedürfnis nach Zuwendung sehr groß. Aber auch die Stiefeltern, die in dem neuen Familienverband, die jüngsten Mitglieder sind, sehnen sich nach Anerkennung und Zuwendung – den Lohn dafür, dass sie dieses Experiment wagen. Und auch die Partner, die ein Kind in die Beziehung mitgebracht haben, haben meistens einen Aufholbedarf, weil viele von ihnen nach der Trennung/Scheidung eine Zeit lang ohne Partner allein gelebt haben und die Befriedigung ihrer Bedürfnisse oft zu kurz gekommen ist.

Eine Grundfrage für die Betroffenen ist: haben alle unsere Bedürfnisse Platz in dieser Familie, in der Paarbeziehung?  Und wenn nein, kann dieser Mangel aufgefüllt werden? Was heißt das, wenn einer oder mehrere zu kurz kommen?


6.)    In „einfachen“ Familien sind beide Eltern obsorgeberechtigt, beide dürfen und sollen auch ihre Kinder erziehen.

In Patchworkfamilien gibt es eine abgestufte Elternschaft. Stiefeltern haben es nicht leicht. Sie stehen als „Erziehende“ in der 2. Reihe hinter den leiblichen Eltern und müssen erst eine Bindung zum Kind aufbauen. D.h. in erster Linie ist die Bindung gefragt und das kann Jahre dauern und hängt auch von mehreren Faktoren ab, ob diese Bindung gelingt. Erst wenn eine tragfähige Bindung besteht, nehmen die Kinder ihre Stiefeltern an und akzeptieren deren Grenzen und Erziehung.

D.h. Stiefeltern haben gegenüber den nicht leiblichen Kindern sehr eingeschränkte Rechte aber auch eingeschränkte Pflichten.

Wenn die Bindung zw. Stiefelternteil und Kind gelingt ist es für beide eine enorme Bereicherung. Für das Kind, es hat noch eine Reservemama oder noch einen Reservepapa. Für den Stiefelternteil – es hat ein Kind zusätzlich gewonnen.

7.)    In Patchworkfamilien sind Kinder besonders betroffen. Ohne lange Vorbereitungszeit bekommt man einen neuen Vater/ eine neue Mutter und neue Geschwister. Einzelkinder werden entthront, älteste Kinder womöglich zu jüngsten, Mädchen- oder Bubenmehrheiten getauscht.

Die Frage, die hier für ein gelingendes Zusammenleben wichtig ist: Werden alle Kinder gleichermaßen ernst genommen? Darf ein jedes Kind sein Tempo bestimmen, mit dem es auf andere zugeht? Oder nicht zugeht? Bleibt an der Liebe des leiblichen Elternteils alles gleich?

Ziel ist es nicht, dass Geschwister dicke Freunde werden. Wichtig ist es eher, ob es gelingt Achtung voreinander zu haben und Konflikte gemeinsam zu lösen.
Gelingt dies, ist das zugleich ein großer Beitrag zu ihrer sozialen Entwicklung.

8.)    Da die Betroffenen so oder so einen enormen Nachholbedarf an Zuwendung und Anerkennung haben, ist es auch im Sinne dieser Familien wichtig gesellschaftliche Anerkennung zu bekommen. Die Patchworkfamilie braucht eine tolerante Gesellschaft, eine Gesellschaft, die ihre Familienform zur Kenntnis nimmt und Rahmenbedingungen schafft, dass das Leben in so einer Familie eine Chance auf eine bessere Zukunft hat.

Der heutige Abend ist eine Form der Zuwendung: die öffentliche Auseinandersetzung von kirchlicher Seite mit einem neuen Familienmodell.